Musik – Bewegung – Improvisation

(Erstveröffentlichung in Ringgespräch LIX, August 1994: “Musik und Bewegung”)

Wenn von Musik und Bewegung die Rede ist, denkt man zuerst an eine Aufsplitterung der beiden Bereiche: hier die Musik, dort der Tanz. Beide treten zueinander in Beziehung, die ganz vielfältige Formen haben kann: Kontrapunkt, Ergänzung, Übereinstimmung, Führung des einen oder anderen Bereiches oder auch weitestgehende Gleichberechtigung. Das ist natürlich gerade für improvisierte Musik und improvisierten Tanz äußerst anregend.

Ich möchte jedoch das Augenmerk auf einige andere Aspekte dieses Themenbereiches lenken, bei denen Musik und Bewegung eine Einheit bilden.
Der erste ist so naheliegend, daß er vielleicht gerade deshalb leicht der Aufmerksamkeit entgeht: Es gibt keine Musik, die nicht durch Bewegung erzeugt wird. Jede Musik bedarf der Bewegung (von Gegenständen bzw. Körpern) um zu erklingen. Was können wir daraus für die Improvisation gewinnen?

Der zweite Aspekt ist ein Sonderfall des ersten: wenn nämlich die zur Klangerzeugung notwendige Bewegung so wichtig ist, daß sie gleichberechtigt neben der Musik als visuelles Erlebnis wahrgenommen wird.

Ein dritter Aspekt bezieht sich darauf, daß Musik und Bewegung einander so ähnlich sind, daß man sagen kann, Musik sei selbst eine Art der Bewegung. Darauf deutet ja auch der Begriff „Motiv“ (aus dem lat.: motus=bewegt) hin.

Und viertens stellt sich nach all dem die Frage, ob und vor allem welche Formen der Zusammenarbeit zwischen Tänzern und Musikern denkbar sind, bei denen die anfangs beschriebene Trennung von Musik und Bewegung aufgehoben ist.

Musik aus der Bewegung

Es ist unglaublich, mit welch feiner Bewegungsdifferenzierung unser Körper in der Lage ist, unsere Klangvorstellungen umzusetzen. Wenn ich eine bestimmte Tonhöhe pfeifen will, wissen meine Lippen offenbar genau, welche Lippenspannung sie produzieren müssen, damit genau dieser Ton erklingt. Die Körperbewegung ordnet sich dabei also in perfekter Weise der musikalischen Vorstellung unter.

Aber ist auch die entgegengesetzte Richtung denkbar, daß zuerst die Bewegung da ist, möglicherweise ganz ohne musikalische Vorstellung, und uns zu Musik führt, und zwar solcher, die für uns „unvorstellbar“ gewesen wäre, genauer: Musik jenseits unserer eigenen Klischees und Muster? Genau das könnte ein wichtiger Aspekt für die Improvisation sein.

So haben die ActionPainter, deren berühmtester Vertreter der Amerikaner Jackson Pollock ist, die Bewegung als Ausgangspunkt zum Malen genommen und auf diese Weise einen ganz neuen Weg beschritten: nicht über die innere Vorstellung des zu malenden Bildes, sondern über die Bewegungen, mit denen man Farbe auftragen kann: tropfen, spritzen, klecksen etc. Gerade dabei steht das improvisatorische Moment natürlich im Vordergrund: am Bild wird nicht in der üblichen Weise gefeilt und gearbeitet, sondem es ist Resultat einer Aktion, der zwar möglicherweise eine Planungsphase vorausging, die aber letztlich improvisatorisch ausgeführt wird. Die ästhetische Faszination, die diese Bilder aufweisen, zeigt, wie sehr Bewegung auch in einem anderen künstlerischen Medium als dem Tanz wirksam werden kann.

Gilt Ähnliches auch für Musik, wo sich ja die Bewegung nicht, wie in der Malerei, direkt abbildet, sondern über teils komplizierte Wege der instrumentalen Tonerzeugung?
Lilli Friedemann hat über ihre Art des Improvisierens geäußert: „Für mich ist mehr und mehr der Bewegungsimpuls das eigentliche, schöpferische Element gewesen. Also: Was will meine Hand? Die Hand ist doch nicht außerhalb von mir! Das bin ich doch immer, wenn meine Hand was will.“ (aus: Ringgespräch LV, Juni 1992).
Ähnliche Erfahrungen wie Lilli Friedemann sie als Streicherin beschreibt, habe ich mit Finger, Hand und Armbewegungen am Klavier machen können, aber auch auf der Querflöte, dort allerdings mit Atem und Lippenbewegungen: lasse ich diese Bewegungen führen, entstehen Klänge und Geräusche sowie musikalische Bögen, die mir weitaus stimmiger erscheinen als „ausgedachte“ Musik.

Demzufolge kann sich also das, was an Aussage in der Bewegung steckt, auch über den Umweg eines Instrumentes äußern. Allerdings setzt dies voraus, daß die Bewegung tatsächlich „Gehalt“ hat, nicht aus leeren Formeln und Floskeln besteht, wie zwei Beispiele zeigen:

Als meine älteste Tochter ca. 1 Jahr alt war, liebte sie es, auf meinem Schoß sitzend mit beiden Händen das Klavier zu bearbeiten, während ich das Pedal drückte. Das klangliche Ergebnis fand ich damals sehr reizvoll, da sie hinsichtlich der Pausen, Tondauern und Phrasenlängen aber auch der Lautstärke stets unberechenbar und daher überraschend war. Das änderte sich allerdings. Etwa 1 Jahr später war dieses „Spielen aus der Bewegung“ ein Herumhämmern auf dem Klavier geworden, das durch die ständige Widerholung der immer gleichen Bewegungsmuster die Nerven stark strapazierte.

Ahnliches beobachtete ich bei einer (erwachsenen) Klavierschülerin, der ich als Aufgabe stellte, sich von ihren Bewegungen leiten zu lassen (vgl. Spielekartei „Aus der Bewegung…“). An manchen Tagen verfiel sie in schreckliches Gehacke oder wiederholte Bewegungsfloskeln der Hand (z.B. Dreiklangsketten), die klanglich völlig unergiebig waren. An anderen Tagen aber entstanden Ideen, die zu ihren besten überhaupt zu zählen sind.

Was ist es also, was den Unterschied zwischen Banalität und Genialität ausmacht? Ist es die Stimmigkeit, die Authentizität der Bewegung? Ist es ein Wechselspiel von Hör- und Tastsinn, bei dem sich die Bewegung vom vorangegangenen Klang animieren läßt, so daß der Ausführende Tänzer (mit der Hand) und Musiker in einer Person ist? Sind die Kriterien dieselben, die auch die Bewegungen von Tänzern einmal langweilig ein anderes Mal interessant erscheinen lassen (wobei die Beurteilungen bekanntlich häufig sehr kontrovers sind)? Und: Bedarf es besonderer Fähigkeiten (z.B. motorischer Sensibilität) um sich über impulsive Bewegungen auf einem Instrument auszudrücken?

Eine letzte Bemerkung aus pädagogischer Sicht: Es gibt natürlich keine Patentrezepte, um Schüler zu „genialen Ideen“ zu veranlassen. Insofern darf man sicher zufrieden sein, wenn eine Spielregel wenigstens hin und wieder geniale Momente wenigstens aufscheinen läßt. Ein Bereich in dem das Erfinden aus der Bewegung allerdings besonders ergiebig ist, ist der metrische. Wenn es gelingt, den Spielern dazu zu verhelfen, daß sie (z.B. auf der Trommel) Rhythmen nicht zuerst im Kopf sondern unmittelbar aus der Bewegung heraus erfinden, kommt man sehr häufig zu eindrucksvollen Ergebnissen. Dies gehört sicherlich mit zu den wichtigsten Erfahrungen, die die improvisatorische Arbeit von Lilli Friedemann geprägt haben.

Sichtbare Musik – hörbare Bewegung

Bei der bisher besprochenen Beziehung zwischen Musik und Bewegung ruft die Bewegung die Musik hervor, der Hörer aber nimmt primär die Musik wahr und nicht unbedingt die wichtige Rolle, die Bewegung dabei spielt.
Es gibt aber auch Klänge, Geräusche, musikalische Ideen und Abläufe, zu deren Erzeugung Bewegungen notwendig sind, die als solche auch visuell faszinieren, so daß Auge und Ohr gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Bewegung und Klang stehen dabei also gleichberechtigt nebeneinander. Beides ist untrennbar miteinander verbunden und beides soll und kann im selben Maße wahrgenommen werden, so daß weder die Qualität der Musik unter der Bewegung leidet, noch die Qualität der Bewegung unter der Musik. Im Gegenteil: so wie Musik und Klang hier miteinander zusammenhängen ist i.d.R. gute Bewegung Garant für gute Musik bzw. gute Musik nur durch gute Bewegung realisierbar. Mit unserer Gruppe EX TEMPORE haben wir dabei einige Erfahrungen gesammelt.

An den Ufern des Nil, 1986Eines unserer ersten derartigen Stücke, eine Improvisation mit einer schweren Eisenkette, ist in diesem Heft als Fotoserie dokumentiert. Bei diesem Stück ist allerdings nicht die Körperbewegung der Spieler die entscheidende visuelle Aktion, sondern die Bewegung der Kette selbst. Indem die Kette zum „Tanzen“ gebracht wird, entsteht Musik.

Rückzug, 1987In einem anderen Stück, „Rückzug“, erzeugten wir Klänge, indem Gongs in fast aufrechter, leicht geneigter Position über einen Steinfußboden gezogen wurden. Wenn sowohl der Neigungswinkel wie auch das Tempo des Ziehens genau stimmten, gerieten die Gongs in Schwingung und produzierten einen spezifischen Klang, der anders auf Gongs nicht hergestellt werden kann. Neigungswinkel und Tempo mußten von den Spielern ständig erspürt werden, denn jede schon geringe Abweichung brach den Klang unmittelbar ab. Das Faszinierende an dieser Performance war, daß das notwendige Einfühlen in die Eigenschaften der Gongs als Bewegungsqualität, nämlich als konzentrierte Aufmerksamkeit des ganzen Körpers, für das Publikum sichtbar wurde, Bewegung und Klang ein einheitliches Sinneserlebnis waren.

Kehraus 1989Eine weitere Aktion, „Kehraus“, bei der auf Steinfußboden verteilte Porzellan-Scherben mit langen Holzstangen weggekehrt werden, ist im letzten Ringgespräch beschrieben. Hier hatten die Bewegungen schon etwas theatralisches, da sie an den eigentlich banalen Vorgang des Fegens erinnerten, was im krassen Gegensatz stand zu den faszinierenden Klängen, die die Scherben produzierten. Andererseits war genau diese Bewegungsart die ökonomischste und auch schlichteste, die die gewünschten Klänge erzeugen konnte. Alles andere hätte affektiert gewirkt, künstlich dazuerfunden, und der Aktion damit den Reiz der sinnlich wahrnehmbaren Abhängigkeit von Klang und Bewegung genommen.

Bewegung in der Musik

Daß Musik aus der Bewegung heraus überzeugend wirken kann, hängt zu einem erheblichen Teil damit zusammen, daß sie selbst als eine Art von Bewegung anzusehen ist. Auch Musik entwickelt sich entlang der Zeit, und sie bewegt ihren „Körper“ d.h. ihr Klangmaterial in einem künstlichen Raum, der durch Tonhöhen (hoch – tief), Lautstärken (weit – nah) und Klangfarbenänderung (im Sonderfall europ. „klassischer“ Kunstmusik sogar in einem Raum harmonischer Verwandtschaften, also noch einmal Nähe und Ferne) dimensioniert ist. Außerdem kann sie ihren Bewegungen Charakter verleihen (abgehackt/ fließend bzw. staccato/legato).
Diese Beobachtung läßt sich natürlich umkehren: Tänzer denken auch in musikalischen Dimensionen: indem sie Zeitabläufe gestalten, Tempo, Nähe, Höhe/Tiefe und Charakter als Ausgangsmaterial nutzen.
So können sich Musik und Tanz ähnlich ausdrücken: Sie können rasend schnell sein und doch nicht von der Stelle kommen, sie können sich sehr langsam bewegen, dabei aber schnell verändern. Sie können hektisch oder beruhigend, linkisch oder brilliant sein, sich regelmäßig wiederholen oder kontinuierlich fortentwickeln u.s.w. Dabei läuft Musik nicht so schnell Gefahr wie der Tanz, auf der Bewegungsebene reinen Abbildungscharakter zu haben, es sei denn, man hat als Zuhörer die imitierte Bewegung unmittelbar vor Augen. D.h.: wenn ein Musiker die Bewegungen eines Tänzers zeitgleich in Musik übersetzt, kann das banal wirken (ebenso, wenn ein Tänzer die Musik unmittelbar in Bewegung übersetzt). Wenn er sich aber nur innerlich von Bewegungsideen leiten läßt, kann das für ihn sehr inspirierend sein.

Daraus lassen sich Folgerungen für sinnvolle Formen des Zusammenwirkens von Musik und Bewegung ziehen, die gerade für das Improvisieren wichtig sind:

  • Musik und Tanz können beide auf der Bewegungsebene kommunizieren, aber als gleichwertige Partner, also eigenständige Stimmen, die sich ergänzen, widersprechen u.v.m. und nur im Einzelfall „unisono spielen“.
  • Musik und Tanz können auch zeitlich versetzt zu Wort kommen, so daß beide sich auf der Bewegungsebene anregen, ohne der Gefahr platter Ubersetzung zu erliegen.
  • Ein Musiker bzw. eine ganze Gruppe kann zuerst selbst Bewegungen machen (ggf. zu bestimmten Themen) und diese dann in Musik umsetzen. (Ich habe dies in der praktischen Arbeit mit Kindern mehrmals bei meiner Kollegin Jule Greiner beobachtet  – vgl. ihren Artikel in diesem Heft – und fand die musikalischen Resultate stets sehr überzeugend.)
  • Musiker können sich durch die Vorstellung von Bewegungen der Natur, Tierbewegungen, menschliche Bewegungen innerlich zu ungewöhnlichen musikalischen Ideen anregen lassen. (vgl. diverse Regeln in der Spielekartei in diesem Heft)

Lilli Friedemann hat in einer Phase ihrer Arbeit die Bewegung in der Musik als das eigentlich motivische Material metrisch ungebundenen Improvisierens betrachtet und daraus sogenannte „Mot-Spiele“ entwickelt. „Mots“ (abgeleitet von „Motiv“, aber eben weniger als ein Motiv) sind Bewegungsarten, die als verbindliches und durch Imitation und Kontrapunktik zu verarbeitendes Material den Grundstock von Improvisationen bilden können. (siehe: Lilli Friedemann, Einführung in neue Klangbereiche durch Gruppenimprovisation, Wien 1973, rote reihe 50, Kapitel H.4: MotSpiel, S.40-48).

Musiker = Tänzer, Tänzer = Musiker

Wenn wir die drei bisher erörterten Aspekte weiterdenken, ergeben sich als Konsequenz daraus ganz neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Musikern und Tänzern.
Sind sich die Musiker dessen bewußt welche Rolle in ihrem Tun die Bewegung spielt

  • als improvisatorischer Impuls
  • als potentiell visuelle Aktion
  • als musikalische Denk- und Gestaltungsebene

so werden sie nicht umhin kommen, mit ihren Bewegungen bewußter und gezielter umzugehen (“gezielt ‚kann auch „gezielt impulsiv“ bedeuten) und sich somit selbst wenn schon nicht als Tänzer so doch als sich Bewegende anzusehen.

Andererseits werden die Tänzer erkennen, daß ihre Sensibilität und ihr Einfallsreichtum auf dem Gebiet der Bewegung sehr fruchtbar für die unmittelbare Klangerzeugung sein kann und sie daher damit experimentieren sollten, als sich Bewegende zugleich auch Musiker zu sein.

Damit ergeben sich natürlich ganz neue Perspektiven für das (gemeinsame wie getrennte) Improvisieren von Musikern und Tänzern.
Darüberhinaus erweitert sich deren Beziehungsspektrum: Von der völligen Trennung beider Bereiche (deren vielfältige Formen hier nicht Thema sind) bis zur völligen Gleichheit als „Klangakteure“.

Xylophonia 1, 1987So war es nur konsequent, daß sich aus der zeitweisen Zusammenarbeit unseres Ensembles mit einer Tänzerin als überzeugendster Teil einer Aufführung ein Stück entwickelte, in dem Musiker und Tänzerin dieselben Aufgaben hatten und einen gemeinsamen Ablauf aus dem Umgang mit einfachen Holzlatten gestalteten, von dem sich nicht sagen läßt, ob er Tanz oder Musik ist. Bewegungselemente spielten ebenso eine Rolle wie Klänge. Das „Instrumentarium“ (die Holzlatten) zwang die Musiker zu gezielten und gestalteten Bewegungen, der Klang der Hölzer forderte von der Tänzerin, auch akustisch zu denken. Jede/r trug mit den eigenen Kompetenzen zu einem Stück bei, in dem Musik und Bewegung nahtlos ineinander übergingen.