Kompetenz durch Kreativität

Chancen musikalischer Gruppenimprovisation

(Erstveröffentlichung in Üben & Musizieren 1999/2)

Gegenüber dem Improvisieren gibt es zwei weit verbreitete Vorurteile. Das erste lautet, Improvisation sei extrem schwierig und erfordere kompositorisch wie instrumental eine sehr gute Ausbildung. Das stimmt – wenn es um Stilkopien hochentwickelter musikalischer Formen, beispielsweise Fugen, geht. Andererseits gibt es seit (mindestens) 30 Jahren improvisatorische Konzepte, die das genaue Gegenteil anstreben: angstfreies Musizieren durch Improvisation. Dabei wird nicht versucht, komponierter Musik improvisatorisch nachzueifern, sondern vielmehr eine Art musikalischer Alltagssprache zu finden, die spontane musikalische Äußerungen erlaubt – vielleicht nicht formvollendet bis ins Detail, jedoch mit der Lebendigkeit und bisweiligen Genialität des Augenblicks, die wir von der verbalen Sprache kennen. Fällt dort nicht das spontane Erzählen von Erlebtem meist weitaus überzeugender aus als das (häufig peinliche) Rezitieren großer Klassiker? Ebenso ist zu beobachten, dass viele Musizierende beim Improvisieren weitaus musikalischer agieren als beim Abspielen fremder Stücke.

Gegenüber solchen Konzepten des Improvisierens jedoch besteht das zweite Vorurteil: die Ergebnisse seien völlig beliebig und in musikalischer Hinsicht häufig unzumutbar. Mag sein, dass in Mode-Zeiten der Gruppenimprovisation Anfang der 70er Jahre mancherorts dilettantisch damit umgegangen wurde. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da diese Musizierform neu war und es keinerlei institutionelle Ausbildung dafür gab. Umso wichtiger scheint es mir, aufzuzeigen, daß sachgerecht angeleitete Gruppenimprovisation:

  • durch geeignete Spielregeln musikalische Kompetenz im praktischen Experiment vermittelt
  • eine in höchstem Maße soziale Form des Musizierens ist, bei der das Aufeinander-Hören und Reagieren von zentraler Bedeutung ist,
  • kreatives und zugleich lustvolles und angstfreies Musizieren ermöglicht,
  • und nicht zuletzt ein Verständnis für zeitgenössische Musik weckt.

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe verschiedener methodischer Ansätze für musikalische Gruppenimprovisation. Ich stütze mich bei den nachfolgenden Betrachtungen auf die von mir selbst seit vielen Jahren praktizierte Arbeitsweise von Lilli Friedemann (1) und möchte einige der wichtigsten Voraussetzungen und methodisch-didaktischen Merkmale an praktischen Beispielen veranschaulichen.

Beispiel 1: „Klänge im Raum“ (2):

  • Die Spieler suchen interessante Klänge bzw. Geräusche im Raum. Gefragt sind Dauerklänge oder wiederholte Einzelklänge, nicht Rhythmen.
  • Alle spielen ihre Klänge zugleich. Klangchaos! Dann hört auf, wer den lautesten Klang hat, anschließend der Nächstlauteste usw. bis zuletzt der Leiseste übrigbleibt. Zeit lassen zum Abbauen! Aus dem anfänglichen Klangchaos kristallisieren sich interessante transparente Klangsituationen heraus.
  • In derselben Weise wird nach anderen Kriterien abgebaut, beispielsweise von hell zu dunkel oder von bewegt zu ruhig. Dabei können jeweils neue Klänge verwendet werden.
  • Eine Person übernimmt das Amt der Klangmischerin. Sie hört sich die gleichzeitig gespielten Klänge an und hat die Aufgabe, stumm, nur durch Aus- und ggf. wieder Einmischen per Handzeichen, eine Lieblings-Klangmischung auszuwählen, die am Ende alleine zu hören sein soll und ein eigenes Ende findet.
  • Gespräch: Nach welchen Kriterien hat die Klangmischerin ausgewählt? Bestand das Resultat aus ähnlichen oder aus gegensätzlichen Klängen? Wie beurteilen die anderen Spieler das Resultat?
  • Aus derselben oder aus einer neuen Auswahl von Klängen wählt ein neuer Klangmischer eine weitere Mischung aus, das Resultat wird wieder diskutiert. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrmals. Werden stets große Besetzungen gewählt, ändert sich die Spielregel: nur 3 – 5 Klänge dürfen übrig bleiben. Wie ist die Wirkung?
  • Weitere Varianten sind möglich: Übertragung auf elementare Instrumente, Mischen eines Ablaufs aus der Stille usw.

Daraus lassen sich erste grundlegende Erkenntnisse ableiten:

  1. Spiel ist kein unnützer Kinderkram, sondern kann eine wichtige (und zugleich lustvolle) Form der Erkenntnisgewinnung sein. Das für die Gruppenimprovisation notwendige Handwerk muss nicht in drögen Übe-Sequenzen vermittelt werden, sondern wird im Spiel erworben. Dabei stellen geeignete Regeln Erfahrungsräume zur Verfügung, mit denen der Spielleiter bestimmte wichtige musikalische (und bisweilen auch gruppendynamische) Aspekte thematisiert und die zugleich den Mitspielern eigene Erkenntnisse ermöglichen. In der beschriebenen Spielfolge waren Erfahrungsmöglichkeiten unterschiedlicher Art enthalten:
    • experimenteller Umgang mit Klingendem; Finden, Modifizieren und Auswählen geeigneter Klänge; Anregung durch Ideen der Mitspieler
    • Sensibilisierung des Gehörs für verschiedene Eigenschaften der Klänge – ein sehr wichtiger und unverzichtbarer Aspekt
    • aufeinander hören und reagieren, gleichzeitig mit dem eigenen Spiel. Bin ich lauter als du? Wann ist der richtige Zeitpunkt aufzuhören?
    • Strukturen gestalten und ihre Eigenschaften erkennen. Möchte ich ein Gebilde aus ähnlichen oszillierenden Klängen oder suche ich Gegensätze? Welche Gegensätze ziehen sich an, welche nicht? Welche Klänge sind in dieser Struktur unentbehrlich, welche überflüssig?
  2. Es ist möglich (und zugleich sinnvoll) von der ersten Minute an zu musizieren. Aus der realen musikalischen Erfahrung erfolgen Einsichten in musikalische Sachverhalte. Die Diskussion über das Erlebte und die daraus folgenden Einsichten nehmen einen wichtigen Stellenwert ein. So leitet sich die Theorie stets aus der Praxis ab und nicht umgekehrt.
  3. Elementare Klänge und Geräusche sind in doppelter Hinsicht ein fürs Improvisieren sehr geeignetes und dankbares Material. 
Einerseits lassen sie sich ohne Vorkenntnisse im Experiment entdecken und handhabbar machen. Dadurch entfällt das leidige Problem der Vermittlung komplizierter Instrumentaltechnik. Klangmöglichkeiten aufzufinden wird vielmehr zu einem lustvollen Prozess. Die beschriebenen Raumklängen sind natürlich ein Extrembeispiel. Ein sinnvolles Instrumentarium besteht aus elementaren Schlag-, Saiten- und Blasinstrumenten sowie klingenden Materialien, bietet eine sehr breite Klangpalette und erlaubt auch ungeübten Laien die adäquate Handhabung. (Instrumentalisten können natürlich ihr eigenes Instrument einsetzen.)
    Andererseits bedeutet die Bevorzugung von Klängen und Geräuschen, dass in der musikalischen Gestaltung die Parameter Klangfarbe, Artikulation, Dynamik und Rhythmus (letzterer zunächst nicht im metrischen Sinne) der Tonhöhengestaltung vorgezogen werden. Dieser Umstand stößt häufig auf Skepsis, entspricht aber durchaus wichtigen Strömungen der komponierten Musik des 20. Jahrhunderts (wie die Musik von Schaeffer, Henry, Schnebel, Kagel, Lachenmann u.a. zeigt). Klangfarbengestaltung ist der Improvisation zutiefst eigen, denn sie geschieht in der direkten Auseinandersetzung mit dem Instrument. Ein sehr differenzierter Umgang damit ist für den improvisierenden Musiker viel leichter als für den komponierenden. Die Gestaltung von Tonhöhen hingegen entspricht eher den Möglichkeiten des Komponisten, Improvisatoren verwenden hierfür stets vorgefertigte Materialien (Skalen und Harmonien), die zu beherrschen viel Übung erfordert und Laien meist soviel Konzentration kostet, dass die eigentliche Gestaltung zu kurz kommt.
    Trotzdem sei darauf hingewiesen, dass auch metrisch-tonale Musik improvisierbar ist, wobei man sich sinnvoller Weise zunächst an die elementaren Formen hält, also metrisch-rhythmische Strukturen und einstimmige Melodik mit einfachen Begleit-Strukturen. (3)

Beispiel 2: „Der Elefant“ (4):

Die Spieler sitzen, jeder mit einer Trommel, im Kreis. Die Schritte eines Elefanten gehen reihum. Zunächst bleibt das Tempo konstant, der Übergang von einer Trommel zur anderen soll möglichst unmerklich erfolgen. Dann werden allmähliche Tempoänderungen eingebaut. Am Ende erfolgt eine Hetzjagd, der Elefant rast im Kreis und ändert bei Bedarf die Richtung.


Dies ist primär ein Kommunikationsspiel, bei dem jedoch eine Forderung erfüllt wird, die ich an alle Spiele stellen möchte: Es beinhaltet notwendige individuelle Aspekte (gelöste angstfreie Stimmung) ebenso wie soziale (aufeinander hören und reagieren) und musikalische (Tempo oder Tempoänderung aufnehmen und weiterführen).

Beispiel 3: „Landschaften raten“ (5):

Die Spieler listen Landschaften auf (Wüste, Dschungel, Eismeer usw.) und teilen sich in Gruppen zu 4-6 Spielern. Jede Gruppe entscheidet sich insgeheim für eine der Landschaften und stellt deren Atmosphäre (nicht die realen Klänge) musikalisch dar. Die anderen Gruppen raten.


Dieses Spiel steht exemplarisch für eine ganze Reihe assoziativer Spielregeln. Außermusikalische Vorstellungen können ungewöhnliche musikalische Ideen anregen. Wohlgemerkt sollen sie nicht Selbstzweck sein: es geht nicht darum, eine Landschaft deutlich dazustellen, sondern mithilfe der Landschaftsvorstellung gute Musik zu erfinden. Das vorgegebene Thema lenkt den Blick aufs musikalische Ganze. Damit gibt es dem Spiel eine Richtung, fordert charakteristische Musik ein und verhindert Beliebigkeit.

Solche Aufgabenstellungen sind phantasieanregend und primär über die innere Klangvorstellung zu lösen. Für ein angstfreies und lustvolles Musizieren eignen sie sich daher besser als technische Materialvorgaben, welche den Intellekt ansprechen, häufig an die Grenze des spontan Bewältigbaren gehen und Versagensängste hervorrufen.

Beispiel 4 „Ikebanas“ (6):


Ikebana ist die japanische Kunst des Blumensteckens. Je drei gegensätzliche Blumen bilden ein Gesteck. Analog haben die Spieler die Aufgabe, drei Klangideen so auszuwählen, dass sie sich in ihrer Gegensätzlichkeit ergänzen und eine Einheit bilden.


Dieses Spiel von Lilli Friedemann ist für mich eines der wichtigsten und lehrreichsten überhaupt, weil es eine Art experimenteller Polyphonie vorstellt. Die Fähigkeit, auf eine musikalische Idee nicht mit etwas Gleichem oder Ähnlichem zu antworten, sondern einen Gegensatz (Kontrapunkt) zu finden, der den ersten bereichert und ergänzt, ist ein ganz zentrales improvisatorisches Handwerkszeug. Beim Ikebana ist der Anspruch noch höher: Drei Ideen ergänzen sich zu einer abgeschlossenen Einheit. Und doch ist die Spielregel auch mit musikalischen Laien realisierbar, wenn man sich die Zeit nimmt, dass Gelingen ebenso wie das Misslingen verschiedener derartiger Miniaturen im Experiment zu erproben.

Die Liste von Beispielen und notwendigen handwerklichen Lerninhalten ließe sich noch lange fortführen: Entwicklungsformen, das Gefühl für Zeitabläufe, das Austarieren von Dichte und Lautstärke, dialogisches Improvisieren, solistisches Spiel, experimenteller Umgang mit Instrumenten und mit der Stimme, verschiedene Formen des Verhältnisses zwischen Musik und Bewegung sowie zahlreiche Spiele zum Umgang mit metrischen Rhythmen und mit Melodieerfindung sind nur einige wichtige Stationen. Letztlich zielt alles darauf ab, dass die Spieler immer mehr Gefühl für musikalische Folgerichtigkeit entwickeln und Musik aus ihrer inneren Logik heraus verstehen und gestalten können. So wird improvisatorische Kompetenz graduell aufgebaut und doch von Anfang an mit Spaß und Lust aktiv musiziert. Dabei beweist sich immer wieder, dass auch angeblich „Unmusikalische“ ein hohes Maß musikalischer Sensibilität und Erfindungsgabe zeigen und sich nicht selten freier und unbefangener verhalten als hochleistungsgewohnte Musiker.

Solches Musizieren und Musiklernen verdiente einen weitaus wichtigeren Platz in unserem Musik- und vor allem Musikerziehungsleben, als dies derzeit der Fall ist. Allein an der Institution Musikschule sind zahlreiche Einsatzmöglichkeiten denkbar:

  • als eigenständige Ensembleform (für Instrumentalisten und Laien, vor allem aber für vermeintlich „unmusikalische“ Erwachsene)
  • als Musizierform in Früherziehung und Grundausbildung (wo Improvisation meines Wissens oft gefordert aber selten realisiert wird)
  • als Ensemble-Grundkurs, der auf Kammermusik oder Orchester vorbereitet
  • als praxisorientierte Variante von Musiklehre- und Kompositionsunterricht
  • als Bestandteil des Gruppen-Instrumentalunterrichts bzw. (in modifizierter Form) des Einzelunterrichts
  • als Einführung in zeitgenössische Musik
  • als eine unter vielen Musizierformen im Chor

Meines Wissens ist der gravierendste Hinderungsgrund das diesbezügliche Ausbildungsdefizit. Es gibt nur zwei Hochschulen in Deutschland (nämlich die in Leipzig und Dresden), die (Einzel- und Gruppen-) Improvisation als Hauptfachstudium anbietet. An manchen anderen Hochschulen findet immerhin Improvisations-Einzelunterricht als Nebenfach statt und improvisatorische Elemente fließen in Ensemble-Kurse mit ein. Was jedoch fehlt, ist ein Selbstverständnis von Musikpädagogik, welches  kreatives Musizieren und Musiklernen durch Gruppenimprovisation grundsätzlich als notwendigen Bestandteil des Musikpädagogik-Studiums begreift. Kompetenter Umgang mit diesem Fach erfordert eine angemessene Ausbildung. Daran führt auch in Zeiten leerer Kassen kein Weg vorbei.

Anmerkungen/Fußnoten:

1.: Lilli Friedemann, 1906 – 91, Geigerin, ausgebildet bei Flesch, Tonsatzstudium bei Hindemith. War in der ersten Hälfte ihres Lebens als Solistin und Instrumentalpädagogin tätig. Seit den 50er Jahren entwickelte sie ihren methodischen Ansatz der Musikalischen Gruppenimprovisation, den sie in zahlreichen Vorträgen, Fortbildungsveranstaltungen und Büchern weitergab.

2.: Lilli Friedemann, Einführung in neue Klangbereiche durch Gruppenimprovisation, Wien 1973, S.33/34 und 39/40.

3.: Beispiele hierfür enthalten die unter 4. und 6. zitierten Bücher sowie das leider vergriffenen Buch von L. Friedemann „Gemeinsame Improvisation auf Instrumenten“, Kassel 1974 (2. Auflage)

4.: Matthias Schwabe, Musik spielend erfinden, Kassel 1992, S.14

5.: ebd., S.43

6.: Lilli Friedemann, Trommeln – Tanzen – Tönen, Wien 1983, S.62