Risiko als Chance

Über die künstlerische und pädagogische Wirkung von Gruppenimprovisation

(Erstveröffentlichung in Ringgespräch LXIII, April 1997 “Improvisation und ihre Wirkung”)

DIE AUSWIRKUNG VON IMPROVISATION AUF DAS MUSIKALISCHE RESULTAT

Wie wirkt sich das Vorgehen beim kreativen Schaffen auf das musikalische Resultat aus? Gibt es überhaupt eine Wirkung in der Weise, dass man sagen kann, Improvisieren bringe eine andere Art von Musik hervor als Komponieren?
Vergleicht man den Vorgang des Improvisiereus mit dem des Komponierens, lassen sich die Unterschiede an vorwiegend drei Aspekten festmachen, nämlich:

  • dem Zeitraum und Tempo des Erfindens
  • dem Medium des Erfindens
  • dem Aspekt der Interaktion.

Zeitraum und Tempo des Erfindens

Spezifisch für den Vorgang des Komponierens ist die beliebig ausdehnbare Dauer des Erfindens. Manche Kompositionen wurden über viele Jahren hinweg geschrieben. Der Komponist entscheidet, wann sein Werk „ausgegoren“ ist. Auf dem Weg zum Endresultat kann er das Geschriebene ausführlich reflektieren, beliebig viele Möglichkeiten ausprobieren und ggf. wieder verwerfen. Eine solche Vorgehensweise ermöglicht es (zumindest im Idealfall), in die Tiefe zu gehen, dichte Musik zu schreiben, alles Unwichtige wegzulassen, das Netz musikalischer Beziehungen sehr vielschichtig und fein zu weben. Darin liegt die eigentliche Stärke (gelungener) komponierter Musik.

Charakteristisch für den Vorgang des Improvisierens ist die Notwendigkeit, schnell zu reagieren sowie die Unmöglichkeit, einmal Gespieltes rückgängig zu machen. Auf das musikalische Resultat kann sich dies in unterschiedlicher Weise auswirken:

  1. Wer sich einer solchen Situation unvorbereitet stellt, läuft Gefahr, Altbewährtes, also häufig Gehörtes und Gegriffenes, zu reproduzieren. Nicht nur improvisationsungeübte Orchesterspieler reagieren so, wenn sie mit der Aufforderung: „improvisiere jetzt!“ überrumpelt werden, sondern auch alteingefleischte Improvisationsexperten verfallen immer wieder in Klischees ein Umstand, den Improvisationskritiker gerne vorbringen.(1)
    Eine Möglichkeit, dieser Gefahr zu begegnen, ist das Aufstellen von Konzepten, die zu ungewöhnlichen Herangehensweisen ermuntern. Stockhausen z.B. versteht seine Texte zur Intuitiven Musik als solche Maßnahmen, Neues und Eigenes zu entwickeln.(2)
  2. Eine sehr verbreitete Umgangsweise mit dem Problem des Erfindungstempos beim Improvisieren ist die Verlangsamung der musikalischen Entwicklung. Nimmt die Musik sich Zeit, schreitet sie nur ganz allmählich voran, vermindert sich natürlich auch das notwendige Einfühlungs und Reaktionstempo. Ob dies ein neues musikalisches Klischee darstellt, eine legitime Ausprägung von Musik oder sogar eine notwendige Bereicherung ist, die der Improvisation als Verdienst zugeschrieben werden muss, darüber läßt sich streiten.
  3. Eine weitere Möglichkeit im Umgang mit dem Erfindungstempo besteht darin, Konzepte zu entwickeln, die die Überforderung der Situation eingrenzen, indem sie bestimmte Form und Strakturmerkmale vorgeben, das musikalische Material eingrenzen oder der Phantasie eine bestimmte Richtung zuweisen. Viele Spielregeln von Lilli Friedemann sind z.B. so konzipiert. (Die Zielrichtung solcher Anweisungen ist zwar ursprünglich eine andere als der unter 1. erwähnten, aber viele Konzepte wirken in beide Richtungen)
  4. Die für die Improvisation vermutlich wichtigste Art, mit dem Zeitproblem umzugehen, besteht darin, die Überforderung als Chance für Grenzerfahrungen zu begreifen und damit die Voraussetzungen für ein innovatives musikalisches wie persönliches (und gar soziales) Handeln zu schaffen. Versuche ich nicht nur, „meine Haut zu retten“, indem ich auf naheliegende (und bewährte) Weise reagiere, sondern gestatte ich mir, mich wirklich in die Situation zu „versenken“, mich vom Verlauf der Musik mitreißen zu lassen, ohne überall nach Halt und Kontrolle zu suchen, dann kann ich gerade beim Improvisieren Tiefe erreichen, die aber nicht wie beim Komponieren der Reflexion zu verdanken ist, sondern vielmehr der Intensität des Augenblicks, der Fähigkeit, mich von der Musik unmittelbar ansprechen zu lassen und adäquat zu reagieren, in einem solchen Maß in der Musik zu sein, dass mein Musizieren vollkommen stimmig ist, im besten Fall sogar innovativ.
    Dieses Phänomen ist auch den Komponisten bekannt: Wieviele Stücke sind in einem Fluß entstanden, sozusagen als sofort notierte Improvisation, egal ob auf dem Instrument oder in der Phantasie. Ich würde sogar so weit geben, zu behaupten, dass das spontane Komponieren zu den verbreitetsten Vorgehensweisen vieler Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts gehörte (betrachtet man ihre Werkfülle, ist es anders auch nicht vorstellbar). Allerdings ist die Fähigkeit, eine am Instrument gespielte Improvisation zu erinnern oder eine in der Phantasie vorgestellte in adäquatem Tempo niederzuschreiben bzw. sich durch die schreibbedingte Verzögerung nicht aus dem Fluß bringen zu lassen, nicht vielen Musikern vergönnt. Somit eröffnet die Improvisation den weniger Schriftgeübten die Möglichkeit des kompositorisch durchaus üblichen Weges, musikalische Logik im Tun zu verfolgen. Während der Komponist aber das Ergebnis bei Bedarf anschließend zerreißen kann (oder zumindest stellenweise verbessern), muss der Improvisator dazu stehen. Wer sich in die Tiefen des Stromes begibt, findet nicht immer einen Schatz, kann im schlechtesten Fall sogar untergehen. Doch gerade das Scheitern, der „Fehler“, kann beim Improvisieren ein neuer kreativer Impuls sein. Akzeptiere ich, daß ein „Fehler“ nicht ausradierbar ist, kann er mir eine neue Richtung weisen, zu Ideen verhelfen, die sich sonst meiner Vorstellung entzogen hätten.

Daß ein solches Ringen mit der Unumkehrbarkeit der Zeit auch für das Publikum spannend sein kann, weil der kreative Prozeß plötzlich durchschaubar wird, mitzuverfolgen ist, darin besteht zweifellos noch ein weiterer Wirkungsaspekt von Improvisation.

Das Medium des Erfindens

Kompositionen entstehen zwar nicht zwingend aber doch meist in der Auseinandersetzung mit der Notenschrift. Natürlich spielt sich das Erfinden häufig im Kopf eines Komponisten oder am Instrument ab. Tatsache ist aber, daß die Gedanken durch das Medium der Realisierung, und das sind hier zunächst die Notenlinien, erheblich beeinflusst werden. So ist auch zu erklären, dass die Vorherrschaft von Tonhöhe und -dauer sich über Jahrhunderte hielt; denn mit unserer herkömmlichen Notenschrift sind nur diese beiden Parameter in wirklich differenzierter Form darstellbar. Das Notieren von Klangfarben ist in grober Version im Orchesterstück naheliegend, bedingt durch die Aufteilung in verschiedene Instrumente; feinere Abstufungen innerhalb einzelner Instrumente aber sind schwierig, bedürfen eigentlich einer eigenen Notationsweise und sind selbst dann in nur sehr begrenztem Maße realisierbar.

Improvisation findet demgegenüber in der Auseinandersetzung mit dem Instrument statt. Hier eröffnen sich ganz andere Möglichkeiten. Gerade weil die Klangfarbe bzw. die differenzierte Beimischung von Geräuschen kaum notierbar ist, erweist sich dieser Parameter als lohnendes weil noch weitgehend unbeackertes Betätigungsfeld. Für innovatives Arbeiten ist die Klangfarbe auch insofern besonders geeignet, als sie nie wirklich planbar ist, der Zufall bzw. die Eigenheit des Instruments daher immer mitspielt und der Spieler somit stets herausgefordert ist, neu zu disponieren. Gerade dies aber hilft ihm, Unbekanntes zu entdecken, sei es „aus Versehen“ oder bedingt durch das Auftreten einer ganz unerwarteten Situation.
Auch andere Parameter sind von Bedeutung, wie der Zeitablauf (der hier eher als musikalische Bewegung wahrgenommen wird), die Artikulation, die Dichte und selbstverständlich auch die Tonhöhe. Aber die zuerst genannten unterscheiden sich nicht wesentlich in komponierter und improvisierter Musik. Und die Tonhöhen bedürfen eben doch der längerfristigen Planung, die beim Komponieren gewährleistet ist und beim Improvisieren (z.B. im Jazz) durch das Einüben von Mustern geschieht. Das aber heißt nichts anderes, als dass der eigentlich kreative Vorgang z.B. des Jazz-Musikers eben nicht im Erfinden von Tonhöhenbeziehungen besteht, sondern vielmehr darin, was er aus den eingeübten Tonhöhenmustern macht, nämlich in rhythmischer, farblicher, artikulatorischer etc. Hinsicht. Es läßt sich also durchaus sagen, dass hinsichtlich der musikalischen Parameter die Stärke der Komposition beim Ausarbeiten von Tonhöhenbeziehungen anzusiedeln ist, die Stärke der Improvisation hingegen in der Differenzierung der Klangfarbe liegt.

Diese Beobachtungen haben zu heftigen Polemiken gegen die Improvisation geführt. Dahlhaus z.B. schließt aus der Entwicklung der Musik in den letzten Jahrhunderten, daß „Tonhöhe bzw. Tonqualität und Tondauer zentrale, Intensität und Klangfarbe dagegen periphäre Eigenschaften“ sind (3). Dem ist natürlich entgegenzuhalten, dass
1. eines der wichtigsten Merkmale der Entwicklung komponierter Musik im 20. Jahrhundert in der zunehmenden Bedeutung der Klangfarbe besteht (Schönberg op.16, Ligeti z.B. in „Volumina“ und „Lontano“, Isang Yun, Lachenmann, Kagel, um nur einige wenige zu nennen) und dass
2. die Klangfarbe letztlich ein Tonhöhenphänomen ist, wenngleich in sehr subtiler Weise (als Zusammensetzung der Obertöne, die über dem gespielten Ton in unterschiedlicher Intensität mitschwingen). Ändert sich also die Ausdrucksebene oberflächlich gesehen von der Tonhöhe zur Klangfarbe, so ist dies letztlich nicht eine Verschiebung hin zum Gröberen, sondern vielmehr zum Differenzierteren und Unplanbareren.

Der Aspekt der Interaktion

Der kompositorische Prozess ist i.d.R. ein individueller. Der Komponist läßt sich vielleicht durch gehörte Musik und die Auseinandersetzung mit anderen Künsten anregen, die musikalische Umsetzung seiner Erfahrungen und damit das klingende Ergebnis ist aber seine ganz eigene Angelegenheit. Kollektives Komponieren ist nach wie vor als Ausnahmeerscheinung zu betrachten, aus welchen Gründen auch immer.

In der improvisierten Musik ist der gemeinsame kreative Prozeß ein entscheidendes konstitutives Element. Er ist vergleichbar mit einem verbalen Gespräch unter verschiedenen Personen, das so geführt wird, dass die Ideen des einen neue Gedanken beim anderen hervorrufen. Ein Konzert mit Gruppenimprovisation ist also in gewisser Weise vergleichbar mit einer öffentlichen Diskussionsrunde: Bisweilen endet sie beglückend mit ganz neuen, so noch nie zuvor formulierten Gedankengängen, andere Male erschöpft sie sich im Austausch wohlbekannter Standpunkte.
Dabei sind von Seiten der Spieler zwei verschiedene Strategien zu beobachten. Manche bauen darauf, stets mit anderen musikalischen Partnern zu kommunizieren, um damit einer Verfestigung entgegenzuwirken. Andere hingegen bevorzugen ein festes Ensemble, das in der internen (verbalen wie musikalischen) Auseinandersetzung gemeinsam wächst.

Abschließende Bewertung

Schon seit Jahren ist im Musikleben ein Trend zum Perfektionismus zu beobachten, der die nur mit Spitzenmusikern eingespielte Musikaufzeichnung zum Maß aller Dinge erhebt. Durch die Möglichkeiten der Digitalisierung wird dieser Entwicklung nunmehr eine schon groteske Krone aufgesetzt: Mithilfe geeigneter Computerprogramme kann jede noch so fehlerhafte Einspielung im Nachhinein nach Gutdünken korrigiert werden: Der Schein siegt über das Sein; alles Irritierende ist unter Kontrolle!

In Anbetracht einer solchen Situation ist es von ganz besonderer Brisanz, wenn Musiker immer wieder die Live-Aufführung suchen und sinnlich nachvollziehbar machen, dass der kreative Prozess nie unter Kontrolle ist, dass lebendige Musik stets das Risiko des Scheiterns suchen muß. Das geht dem Interpreten, der eine lebendige Wiedergabe sucht, letztlich ebenso, aber die Improvisation bringt das Problem in besonderer Weise auf den Punkt.

Unter diesem Aspekt ist auch die Diskussion zu verstehen, inwiefern es sinnvoll ist, improvisierte Musik auf Tonträgern zu konservieren. Das macht Sinn, wenn man damit „beweisen“ will, dass gelungene Improvisationen den ästhetischen Vergleich mit gelungenen Kompositionen nicht scheuen müssen. Doch es macht keinen Sinn, ist geradezu absurd, wenn der Prozess der Entstehung mit allen Möglichkeiten des Versagens und Scheiterns als sinnlich wahrnehmbarer Vorgang im Mittelpunkt steht, wenn Improvisation ein Plädoyer für Handeln ohne Geländer und ohne Vollkasko-Versicherung ist.

Die vermeintliche Schwäche von Improvisation, ihre Unkontrollierbarkeit, ist eigentlich ihre größte Stärke!

WIRKEN UND NICHTWIRKEN VON IMPROVISATION IN DER PÄDAGOGIK

Über die pädagogische Wirksamkeit von Improvisation (gemeint ist hier die nicht stilgebundene) wurde Anfang der 70er Jahre viel und ausführlich geschrieben.(4)  Dabei wurde auf die Wirkung von Improvisation aus musikpädagogischer Sicht eingegangen (Stichworte: Hörenlernen, Umgang mit Neuer Musik, lebendiges Musizieren, Verständnis für kreativen Prozeß, Fähigkeit des Zusammenspiels u.v.m.) ebenso wie aus sozialpädagogischer Perspektive (Persönlichkeitsverwirklichung, Eigeninitiative, Erfolgserlebnis, Ventilfunktion, soziales Miteinander, Abwägen zwischen Selbstverwirklichung und Gruppeninteressen, demokratische Entscheidungsfindung u.v.m.).

25 Jahre später bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass gerade in der musikpädagogischen Praxis kreative Ansätze die Ausnahme sind, auch wenn in Musikzeitungen viele Autoren deren Bedeutung immer wieder betonen.
Waren die Behauptungen von Wirksamkeit übertrieben?
Oder gibt es andere Gründe dafür, dass Improvisation immer noch eine Außenseiterdisziplin ist?

Abstriche wird man aus heutiger Sicht sicherlich bei der seinerzeit angenommenen Übertragbarkeit vom Verhalten beim Musizieren auf das Verhalten im Alltag machen. Wer rücksichtsvoll musiziert, muss sich deshalb nicht notwendigerweise auch seinen Mitmenschen gegenüber rücksichtsvoll verhalten. Im Gegenteil: der im Alltag Rücksichtslose sucht bisweilen Kompensation in einem anderen Medium (Sport, Musik u.a.), wo er vielleicht gerade durch besondere Rücksichtnahme hervorsticht. Schreckliche Beispiele solcher Kompensationen bot der deutsche Nationalsozialismus: ausgemachte Kinder- und Tierfreunde waren zugleich grausamste Menschenschlächter; die Verantwortlichen für die Ermordung von Zigtausenden zeichneten sich zugleich als Kenner und Liebhaber anspruchsvoller Musik aus (der doch seit dem Altertum moralisierende Wirkung zugesprochen wird).

Aber selbst, wenn wir hinsichtlich der Übertragbarkeit menschlicher Verhaltensweisen heute andere Einsichten haben, lassen sich doch die Grundannahmen der Wirksamkeit von Kreativität bzw. Gruppenimprovisation in sozial- wie musikpädagogischer Hinsicht nicht leugnen:

  • Wer Kinder beobachtet, wird feststellen, wie sehr sie in selbstbestimmten kreativen Tätigkeiten zu sich selbst kommen und wie sehr andererseits Kinder, die nur rezipieren, sich selbst verlieren.
  • Im Instrumentalunterricht ist immer wieder zu beobachten, wie viele Schüler im freien Spiel eine ganz andere musikalische Intensität an den Tag legen, rhythmisch weitaus präziser und in der gesamten Gestaltung (Dynamik, Temposchwankungen, Artikulation, Authentizität) überzeugender sind als beim Spielen eines vorgegebenen Stückes. Sie sind beim Improvisieren am intensivsten mit ihrer eigenen Musikalität verbunden, während beim Spiel nach Noten die Angst, das Vorgegebene nicht zu erfüllen (also „falsch“ zu spielen), sie von ihrer Musikalität trennt.
    Mag sein, daß das bei besonders hochbegabten Kindern nicht so ist, diese durch die Herausforderung des Vorgegebenen erst wachsen. Im Instrumentallehreralltag habe ich aber mit den „normalen“ zu tun, die nicht ihr Selbstbewußtsein daraus beziehen, dass Musik ihnen einfach zufällt, sondern die mit mehr oder weniger häufigem Üben eben auch, neben Fußball, Hockey, Ballett, Töpfern etc., Klavierspielen lernen wollen. Deren Begabung aber erreiche ich im freien Spiel am schnellsten und am direktesten.
  • Noch deutlicher ist das in der Arbeit mit denen, die gar kein eigenes Instrument spielen oder mit ihrem Instrumentalspiel unzufrieden sind. Wollen sie musizieren, bleibt ihnen Chorsingen oder eben das Improvisieren auf elementaren Instrumenten. Welch musikalische Fähigkeiten sich hierbei häufig in kürzester Zeit herausstellen ist immer wieder verblüffend und zugleich beglückend.

Trotzdem ist Improvisation unpopulär! Meine Klavierschüler werden  mit wenigen Ausnahme ihren Freunden und Verwandten eher komponierte Stücke vorspielen als improvisierte. Und wenn ich die Teilnehmerzahlen von Improvisationskursen mit den Teilnehmerzahlen für Kurse „Afrikanisches Trommeln“ vergleiche, kann ich nur vor Neid erblassen. Genau dieser Aspekt der Wirkung interessiert mich: die Diskrepanz zwischen der immer wieder erfahrbaren positiven musikpädagogischen Wirkung und der ebenso immer wieder erfahrbaren mangelnden Breitenwirkung. Wieso wirkt Improvisation nicht so, wie sie wirken könnte (sollte/müßte)?

Ich vermute, der Grund dafür liegt in drei wesentlichen Merkmalen der Improvisation und deren mangelnder Verträglichkeit mit Wertvorstellungen unserer Kultur.
Improvisation

  • thematisiert das ‚Eigene“
  • ist flüchtig, entzieht sich jeder Kontrolle
  • erhebt den „Fehler“ zum konstitutiven Element
  1. Etwas selbst zu können ist eine Herausforderung. Allerdings muss es etwas sein, was ich selbst als wertvoll anerkenne. Wenn es um Musik geht, hat sie sich an dem zu messen, was ich sonst auf meiner Anlage oder im Konzert höre. Wenn ich den Mozart, das Pop-Stück, die exotische Trommelei aus dem Ärmel schütteln lerne: gut! Aber Musik ohne Vorbild, nur aus mir heraus? Wie kann ich es wagen, mich als Autor gleichberechtigt neben eine anerkannte musikalische Größe (welchen Genres auch immer) zu stellen? Ist Mozart nicht selbst dann noch besser, wenn er nur mühsam hingestammelt wurde? Was ist dagegen schon meine eigene Improvisation mit Klängen, und sei sie noch so hingebungsvoll gespielt?
    Improvisieren ohne klar erkennbares anerkanntes musikalisches Vorbild bedeutet doch, dass ich es wage, etablierte Wertvorstellungen zu ignorieren und damit auch bereit bin, auf kalkulierbare Anerkennung zu verzichten.
    Zwar wird improvisierte Musik auch im zeitgenössischen Stil oft sehr positiv aufgenommen. Aber darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, dass man mit dieser Anerkennung nicht rechnen kann. Das „Eigene“ ist ja an sich kein musikalischer Wert! Es mit Musik zu füllen und zu dieser Musik zu stehen, ist ein Risiko!
  2. Wenn ich einen Kurs „Afrikanisches Trommeln“ besuche, dann nehme ich etwas sehr konkretes mit: eine bestimmte Anzahl erlernter Rhythmen, die ich jederzeit reproduzieren kann. Aber was lerne ich eigentlich in einem Improvisationskurs? Alles, was dort konkret produziert wird, fällt sofort der Vergangenheit anheim. Gelungene Stücke kann ich nicht als Repertoire mit nach Hause nehmen. Zugegeben: ich mache Erfahrungen. Aber sind diese gleichzusetzen rnit konkreten Griffen, konkretem Wissen, konkret erarbeiteten Werken? Wenn ich wieder improvisiere, wer garantiert mir, dass dann das Stück gelingt? Was bringt mir also ein „Kurs“ über Improvisation, wenn ich das Improvisieren doch nicht „beherrschen“ lerne?
  3. Wenn ich einen Beruf ausübe, muss ich lernen, Fehler zu vermeiden. Wenn ich ein Musikstück einübe, werde ich das so tun, dass Fehler möglichst ausgeschlossen sind.
    Wenn ich improvisiere, kann ich das Vermeiden von Fehlern nicht einmal üben. Da aber Fehler (im Sinne von Unpassendem, Ungewolltem) auftreten, muss ich lernen, sie zu akzeptieren, auf ihnen aufzubauen. Die Vorstellung, mit dem Fehler zu leben, ihn zu akzeptieren, scheint sehr schwer zu fallen. Wer musikpädagogisch arbeitet, weiß, wie sehr Schüler durch Fehler aus dem Konzept gebracht werden, wie bereitwillig sie das musikalische Ganze opfern (indem sie unterbrechen und die Stelle nochmal „richtig“ spielen), nur um einen Fehler zu korrigieren. Die Utopie vom fehlerfrei zu spielenden Stück sitzt unendlich tief. Wie sollen sie da mit einer improvisatorischen Situation umgehen, bei der ganz und gar ungewiss ist, was auf sie zukommt?

Das Eigene finden ohne mich zwangsweise an Vorbilder anlehnen zu müssen, mit der Vergänglichkeit leben, Erlebtes nicht wiederholen können und doch daraus Erfahrungen für die Zukunft sammeln, Fehler akzeptieren und ins Positive wenden: das sind ganz elementare Merkmale nicht nur der Improvisation sondern des realen ganz alltäglichen Lebens. Improvisieren ist sozusagen eine Kunstform, die in ihrer ganzen Vorgehensweise das Leben abbildet wie keine andere. (Ob sie auch in der Lage ist, leben zu lehren, sei dahingestellt, s.o. Der eine mag sich durch die Improvisation zu einem selbstbewussteren Leben ermutigt fühlen, der andere verlegt damit die Lebendigkeit, die ihm im realen Leben fehlt, auf die Musik.)
Aber die genannten Eigenschaften entsprechen nicht den Vorstellungen, die der Großteil der Menschen unserer Kultur von einem erstrebenswerten Leben hat. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung, das Festhalten von Erreichtem, das Leugnen der Tatsache, dass Menschen fehlerhaft sind und immer sein werden – all dies ist sehr verständlich und sehr menschlich. Wer kann schon von sich behaupten, frei davon zu sein? Und doch ist ein solches Denken unrealistisch!
Aber es erklärt womöglich, warum improvisieren lernen nicht erstrebenswert zu sein scheint: Improvisation konfrontiert uns mit Leben (weshalb eine der wichtigsten Qualitäten improvisierter Musik ihre Lebendigkeit ist!).
Aus diesem Grund ist sie so wichtig!
Und aus diesem Grund ist sie so unpopulär!

Anmerkungen:

  1. Carl Dahlhaus: Was heißt Improvisation? In: Reinhold Brinkmann (Hrsg.), Improvisation und Neue Musik, Mainz 1979, S. 9-23. Die Kritik an der Formelhaftigkeit von Improvisation ist auf S. 20 detailiert ausformaliert.
  2. Karl-Heinz Stockhausen: Fragen und Antworten zur Intuitiven Musik. In: StockhausenTexte, Band 4, S. 135 unten.
  3. Carl Dahlhaus: ebd., S.13
  4. Wolfgang Stumme (Hrsg.). Über Improvisation, Mainz 1973, speziell die Beiträge von Lilli Friedemann (S.64 ff.) und Wolfgang Stumme (S. 81 ff.)