Das Spiel – Quelle kreativen Handelns

(Erstveröffentlichung in Ringgespräch LXVI, März 2000 “Improvisation und Spiel”)

Spiel hat schon immer eine große Faszination auf mich ausgeübt. Wenn ich Kinder beobachte und wenn ich mich an meine eigene Kindheit zurückerinnere, aber auch wenn ich mir die Rolle vergegenwärtige, die das Spiel in meinem Erwachsenenleben eingenommen hat, dann glaube ich, hier den Schlüssel für ein ganz grundlegendes menschliches Potential vor mir zu haben, das nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene von entscheidender Bedeutung ist. Ich halte in dieser Hinsicht besonders drei Aspekte für wichtig:

  1. Spiel erscheint mir als Ursprung kreativen Handelns. Die verschiedenen Formen des Spiels geben Auskunft über verschiedene Facetten von Kreativität.
  2. Spiel ist eine Form des Umgangs mit dem Leben. Das beinhaltet
    • die Fähigkeit, die Welt zu entdecken, also Lernen im weitesten Sinne,
    • die Möglichkeit, Vergangenes und Erlebtes zu rekapitulieren und zu verarbeiten
    • darüberhinaus aber auch Unmögliches (im Spiel) möglich zu machen und sogar – in besonders glücklichen Momenten – Neues zu entdecken.
  3. Im Spiel ist der Gegensatz zwischen Arbeit und lustvollem Tun aufgehoben: Spiel geschieht in einem Zustand außergewöhnlicher Intensität, größtmöglicher innerer Präsenz, vollkommener Hingabe und zugleich lustvollen Erlebens.

Für das Erwachsenenleben kann Spiel also in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung sein. Musikalische Improvisation – und insbesondere Gruppenimprovisation – ist ein besonders deutliches Beispiel dafür, wie sich Spiel in der ganzen Bandbreite seiner Qualitäten in einer Kunstform manifestiert.

FORMEN DES SPIELS – FORMEN KREATIVEN HANDELNS

Um zu spielen, bedürfen Kindern keiner Hilfe von Seiten der Erwachsenen. Allerdings brauchen sie, so die empirische Forschung, eine Umgebung, die in angemessenem Grade anregend ist. Sich diese Umgebung eigenständig anzueignen und mit ihr umgehen zu lernen, das schaffen Kinder ganz alleine, und zwar durch eine Form des Spiels, die schon der Säugling beherrscht, und die in der Spieltheorie als „Funktionsspiel“ bezeichnet wird1.

Funktionsspiele: die Lust an experimenteller Welterforschung

Im Funktionsspiel erforscht das Kind beispielsweise die Eigenschaften und Möglichkeiten eines Bauklotzes: Ist er hart oder weich? Kann man ihn in den Mund nehmen?, Was geschieht, wenn man ihn loslässt? Was geschieht, wenn man in nochmals loslässt? Geschieht wirklich jedesmal das gleiche, wenn man ihn loslässt? Das Spiel ist zunächst ein Prozess des autodidaktischen Erforschens. Das Kind sammelt seine Erfahrungen selbst und baut sein weiteres Handeln darauf auf. Dabei scheut es keine Mühen, wiederholt ggf. die immer selbe Tätigkeit zig Male, doch es ist ein lustvolles Tun: Wenn es den Bauklotz fünfzigmal fallen lässt, dann vor allem deshalb, weil es so wunderbar ist, dass er sich jedesmal auf dieselbe Weise verhält.

Eine der ersten Fähigkeiten des Kindes besteht also darin,

  • eigenständig
  • lustvoll
  • handelnd/experimentierend

zu lernen!

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass ein Kind einen großen Teil seiner zum Leben wichtigsten Fähigkeiten auf diese Weise lernt, beispielsweise den aufrechten Gang, die Muttersprache und den differenzierten Umgang mit seinem wichtigsten Werkzeug, der Hand. Wohlgemerkt lernt es in diesen ersten Jahren seines Lebens um ein Vielfaches mehr als in jedem anderen vergleichbaren Zeitraum seines weiteren Lebens – und zwar in der beschriebenen Art: eigenständig, lustvoll, experimentierend. Als Pädagoge erblasse ich vor Neid gegenüber einer solchen Form des Lernens!

Das Konstruktionsspiel: Bauen mit und ohne Plan

Aber Spielen ist noch mehr. Wenn das Kind den Umgang mit seinen Händen ebenso wie mit Bauklötzen erlernt, wird es auch probieren, die Klötze übereinanderzuschichten und irgendwann feststellen, dass es „etwas“ gebaut hat, beispielsweise einen Turm. Hier ist eine erste Stufe schöpferischen Handelns erreicht, gängigerweise als „Konstruktionsspiel“ bezeichnet. Ein „fertiges“ Produkt entsteht zunächst unbeabsichtigt aus dem Experimentieren mit dem Material.
Später wird das Kind auch planen, welches Endprodukt entstehen soll, wobei allerdings während des Tuns Änderungen der Zielvorgabe durchaus üblich sind. Das Resultat entsteht in der Auseinandersetzung mit dem Material, was anfangs geplant war, ist häufig sekundär.
Das Konstruktionsspiel bezeichnet also die Fähigkeit, aus dem Umgang mit Materialien „Werke“ entstehen zu lassen, wobei die Resultate mal mehr aus der Dynamik des Tuns resultieren, mal mehr einem vorher gefassten Plan folgen, zu dessen Umsetzung ein Kind ggf. größte Mühen auf sich nimmt (wobei wieder Elemente des Funktionsspiels zur Geltung kommen, wenn im Bauen ausprobiert wird, wie die Steine gesetzt werden müssen, damit der Turm möglichst hoch wird.)

Fiktions- und Rollenspiele: die Kraft der Imagination

Das Planen eines erstrebenswerten Endprodukts, wie es im Konstruktionsspiel beschrieben wurde, setzt eine Fähigkeit voraus, die ein Kind erst allmählich erwirbt, nämlich die, sich etwas vorzustellen, was es nicht materiell vor sich hat. Diese Gabe der Imagination äußert sich in einem weiteren Spieltypus, der mir ganz besonders wichtig erscheint, dem sogenannten Fiktions- oder (als Gruppenspiel) Rollenspiel. Hier wird ein Stuhl zum Auto, eine Kiste zum Schiff, ein Kind zum Ritter, zur Prinzessin, zum Pirat, zum Doktor usw., ja, man kann sogar mit Spielgefährten spielen, die real gar nicht existieren. Dies verschafft ganz außerordentliche Freiheiten. Tatsächlich gibt es nichts, was in einem solchen Spiel nicht möglich wäre. In der inneren Vorstellung kann jede Idee, jeder Wunsch Wirklichkeit werden.

Ich erinnere mich an eine Spielsituation meiner Kindheit: Ich war etwa 10 Jahre alt, zusammen mit einem Freund hatte ich eine große Kiste als Floß deklariert, mit dem wir uns vorstellten, bei hohem Seegang auf dem Meer zu fahren. Aber es hatte ein Opfer gegeben: ein weiterer (imaginärer) Gefährte war in der Tiefe versunken. Es war keine Frage, dass ich unter Einsatz meines Lebens mit einem Seil hinterherspringen würde, um ihn zu retten, und ich teilte meinem Freund mit, dass er mich vielleicht nie mehr wiedersehen werde. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne ihn gemacht. Diese grandiose Gelegenheit zum Heldentum wollte er gerne selbst nutzen und erklärte mir, dass er mir das nicht zumuten dürfe und sich selbst opfern wolle. Ich kann mich nicht erinnern, wer von uns beiden sich letztlich durchsetzte, ich weiß nur noch, wie sehr wir beide uns in unserem Edelmut sonnten.

Heldentum – jemanden retten – sich für eine gute Sache aufopfern: das waren wichtige Themen für uns, die sich allerdings in der Realität mangels Gelegenheit und mangels Mut nicht so leicht verwirklichen ließen. Im Spiel aber konnten wir sein, wie wir gerne gewesen wären. Wir spielten Verhaltensmöglichkeiten durch, probierten Identitäten und setzten uns auf diese Weise mit eigenen Idealen, Wert- und Wunschvorstellungen auseinander.
Auch Erwachsene können noch so spielen, wenngleich sie eine andere Form wählen als Kinder, nämlich das Gedankenspiel. In Gedanken kann ich ebenfalls Situationen und Rollen testen. Wie fühlt es sich an, so oder so zu sein? Wie wäre ich gerne?
Das Spiel bietet also – egal ob im Gedanken- oder im Rollenspiel – die Möglichkeit, Situationen zu erproben, selbst solche, die jenseits aller Realisierungsmöglichkeiten liegen.

In seinem Kinder-Roman „Die unendliche Geschichte“ thematisiert Michael Ende die Chancen – zugleich aber auch die Ambivalenz – des Reisens in die Welt der Gedanken. Ein Junge vertieft sich so sehr in ein Buch, dass er selbst Teil davon und schließlich Hauptperson wird. Als uneingeschränkter Herrscher über alles Geschehen genießt er seine Macht und lernt sich dabei von einer neuen, tyrannischen und diktatorischen Seite kennen, die ihn am Ende selbst entsetzt. Doch er hat sich mittlerweile so intensiv in seine imaginierte Welt hineinbegeben, dass ihm der Heimweg in die Realität nur unter großen Mühen gelingt. Nach erfolgreicher Rückkehr ist er in der Lage, bereichert um die neuen Erfahrungen, anders zu leben als zuvor.

Die Gründe, warum im Phantasiespiel bestimmte Situationen aufgesucht werden, sind in der Regel ganz realer Art: Dass der Junge in Endes Roman Allmachtsphantasien entwickelt, liegt darin begründet, dass er in seinem realen Leben ein Außenseiter ist: dicklich, von anderen verspottet und ohne jegliches Selbstbewusstsein. Das Gedankenspiel gibt ihm die Möglichkeit, sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Im Falle des Romans ist diese Auseinandersetzung zumindest teilweise erfolgreich. Dem Spiel wohnt offenbar die Kraft inne, real Erlebtes zu verarbeiten, indem bedrängende Situationen nachgespielt und neue Verhaltensmöglichkeiten erprobt werden. Dies lässt sich auch bei Kindern beobachten, die im Rollenspiel ihre Alltagserfahrungen verarbeiten: den Umgang mit Eltern und Geschwistern, die Angst vor dem Zahnarzt bis hin zu bedrängenden Bildern von Gewaltfilmen.

Auch in der Psychotherapie gibt es ein Verfahren, die sogenannte „Spieltherapie“, die sich dieser Möglichkeiten des Spiels bedient, um Heilung herbeizuführen.2

Zwischenresümee: Spiel und Kreativität

Die drei genannten Kategorien von Spiel wurden ursprünglich entwickelt, um zu beschreiben, wie sich das Spielverhalten von Kindern allmählich herausbildet. Bei genauer Betrachtung ist aber festzustellen, dass mit ihrer Hilfe die Facetten von kreativem Handeln beschrieben werden können. Kreatives Handeln würde sich demnach aus drei Teileigenschaften zusammensetzen, nämlich

  • dem experimentellen Erforschen
  • dem Finden und Erfinden von Ergebnissen, die im praktischen Tun entstehen, und zwar in einem Wechselspiel zwischen Zufall und Planung
  • der inneren Vorstellung von Erlebtem und Fremden bzw. der Fähigkeit, im Gedankenspiel beliebige – auch ganz und gar neue – Orte aufzusuchen, Altes und Neues zu verknüpfen und dadurch wieder Neues zu schaffen.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob nicht Innovation grundsätzlich aus zumindest einem, in den meisten Fällen einer Mischung aus allen dreien dieser Teilaspekte resultiert. Dann wäre das Spiel in den genannten Formen sozusagen die Keimzelle von Kreativität bzw. Innovation.

SPIELEN ALS „BESONDERE“ VERHALTENSWEISE

Regelspiel – lustvoller Gegenalltag

Im Alltag assoziieren wir mit Spiel meist die sogenannten „Regelspiele“: Mensch ärgere dich nicht, Schach, Uno, Fußball usw. Diese Spiele sind typisch für ältere Kinder und Erwachsene. Im Regelspiel verblasst die Bedeutung der Kreativität (wenngleich es in vielen Spielen, z.B. Schach, um das Lösen strategischer Probleme geht). Vielmehr ist der Spaß am Tun zentrales Thema. Dies ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass für das Kleinkind die Aneignung der Welt im Vordergrund seines gesamten Handelns steht und deshalb sein Spielen primär entdeckenden Charakter hat. Für ältere Kinder und Erwachsene hat das Spiel eher psychohygienische Funktion: Ausgleich von den Zwängen des Alltags, Aufgehen in einer selbstgewählten Tätigkeit, totaler Einsatz für etwas, das kein „muss“ ist, sondern ein „darf“. Hier kommt insbesondere der eingangs unter 3. genannte Aspekt zur Geltung: Aufhebung des Gegensatzes zwischen Arbeit und lustvollem Tun bei außergewöhnlicher Intensität des Erlebens, größtmöglicher innerer Präsenz und vollkommener Hingabe.

Im Regelspiel begegnen wir damit einem zweiten sehr wichtigen Aspekt des Spielens. Offenbar ist Spiel eine Handlungsform, die in der Lage ist, einen Gegenpol zu unserem alltäglichen zweckgebundenen Leben zu bilden. Es handelt sich um eine Art abweichendes Verhalten, das nur möglich zu sein scheint, wenn wir nicht unter äußeren Zwängen stehen. Spiel ereignet sich nur unter den Bedingungen von Offenheit, sowohl in zeitlicher als auch funktionaler Hinsicht. Deshalb wird auch das kindliche Spiel oftmals nicht ernst genommen: es scheint nicht zweckmäßig zu sein. Wie kann es da auf ein zweckorientiertes Leben vorbereiten?

Was also heißt „spielen“?

Schauen wir uns einmal genauer an, was denn nun eigentlich „spielerisches“ Verhalten ausmacht. Kann es überhaupt zweckfrei sein, wenn es so viele Zwecke erfüllt? Ist es mit Leichtigkeit zu assoziieren, wo doch jeder Brettspieler vor Anstrengung und Konzentration ins Schwitzen gerät? Und wie unterscheidet es sich überhaupt von Arbeit?
Spielen ist in mehrfacher Hinsicht eine Gratwanderung:

  • Es erfüllt tatsächlich Zwecke (des Lernens, der Verarbeitung etc.) und man kann durchaus spielen, um zu Lernen oder um beispielsweise in einer Gruppe ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen. Im Spiel aber darf dieser Zweckgedanke nicht vorherrschen, sonst ist das, was das Spiel ausmacht, zerstört.
  • Spielen hat durchaus mit Einsatz und Intensität zu tun, zugleich aber auch mit Offenheit und Leichtigkeit. Es exisitiert nur in der Balance zwischen diesen beiden Polen. Ohne das jeweilige Gegenstück kippt es auf der einen Seite in Spielerei und Belanglosigkeit, auf der anderen Seite in rein zweckorientierte Pflichterfüllung.

Freiheit, Freiwilligkeit
Leichtigkeit, Offenheit, Spaß
←←←←←←→→→→→→

SPIELEREI                   SPIEL                PFLICHT

←←←←←↔→→→→→
Intensität, Einsatz, Arbeit

Über die Kennzeichen des Spiels schreibt Christoph Richter: „An erster Stelle ist der ambivalente Zustand des Spiels und das ambivalente Verhalten der Spieler zu nennen, das Schwanken und das Hin und Her zwischen Ernst und Spiel, Realität und Schein, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Leichtigkeit und Mühe, Freiheit und Zwang. Häufig sind beide Pole ‚im Spiel‘; häufig bedingt der eine den anderen. Die mühevolle Erarbeitung einer Musik erlaubt schließlich ihre Darstellung als scheinhafte, symbolische Wirklichkeit; nur die ernste Befolgung des Spielverlaufs und seiner Regeln ermöglichen den Spielcharakter, z.B. in einer Oper.
Die Ambivalenz des Spiels verweist auf zweierlei: auf den Zustand des ‚Zwischen‘ in dem sich der spielerische Mensch stets befindet (er ist in der realen Welt und gestaltet in ihr eine Welt des Spiels…); ferner auf die Tatsache, dass ‚Spiel‘ stets durch die Sphäre des Nichtspiels beeinflusst und gefährdet ist, z.B. durch ökonomische Interessen, durch psychisches Verhalten der Spieler (Ehrgeiz, ‚aus der Rolle fallen‘ und andere Anlässe des ‚Spielverderbens‘), durch äußere Zwänge“
3

SPIEL UND MUSIK

Möglichkeiten dafür, welche Bedeutung das Spielen im Leben der Erwachsenen haben kann, sind bereits angeklungen:

  • Spiel als „lustvoller Gegenalltag“, als Gegenstück zu einer von Zwecken und Zwängen bestimmten Lebensweise.
  • das Gedankenspiel als Möglichkeit, in der inneren Vorstellung Situationen zu testen, verschiedene Möglichkeiten durchzu-“spielen“

Auch die Wissenschaften machen sich das Gedankenspiel als Erkenntnismethode zueigen. „Seit es Mathematik gibt, sind wichtige Entwicklungen durch die Beschäftigung mit Spielen vorangetrieben worden“4.
Aber vor allem in den Künsten lebt das Spiel weiter. Laut Brockhaus-Enzyklopädie bezeichnet das althochdeutsche „spil“ Spiel, Scherz, Musik, Schauspiel und eigentlich wohl Tanz(bewegung). Mit „Spielmann“ wurden usprünglich Schautänzer und Gaukler, später fahrende Sänger und Musikanten des Mittelalters bezeichnet. Auch in unserer heutigen (und nicht nur der deutschen) Sprache wird Musik gespielt: Ich spiele ein Instrument oder auch eine Sonate. Es lohnt sich, genauer hinzusehen, was hinter dieser Ausdrucksweise steckt. Dabei greife ich auf die anfangs vorgestellten Typen von Spiel zurück, weil sie verdeutlichen, dass „spielen“ ganz unterschiedliche Dinge bezeichnen kann.
Eine Sonate spielen, das heißt zunächst eine Art Fiktions- oder Rollenspiel spielen: hier werden Situationen künstlich geschaffen, in denen Spieler und Zuhörer leben und erleben können, die an Erlebtes anrühren oder Noch-nicht-Dagewesenes anklingen lassen.
Eine Sonate spielen kann aber auch das Nachvollziehen eines kompositorischen Spiels sein, wenn der Komponist im Spiel mit dem Material (den Tönen, der verrinnenden Zeit, der Form, dem Instrument, musikalischen Traditionen, ja sogar dem Notenbild) sein Stück entwickelt hat. Dann ist Spiel eher im konkreten Sinne gemeint, als Experiment mit dem Material, aus dem, teils durch Planung, teils durch Probieren, musikalische Resultate erwachsen.
Natürlich hängt beides eng miteinander zusammen: Wenn Schubert in der dem Spiel eigenen Ambivalenz eine Tonika Moll und im nächsten Moment Dur sein lässt, dann ist das einerseits ein Spiel mit dem Material, andererseits schafft er damit Situationen von sehr eindrücklicher emotionaler Qualität. Hier bilden also beide Aspekte, das konkrete Spiel mit dem Material und das Schaffen künstlicher Situationen, eine untrennbare Einheit.
„Ein Instrument spielen“ weist auf weitere Züge des konkreten Spielens (also der Funktions- und Konstruktionsspiele) hin: Ich erobere mir das Instrument, indem ich damit umgehe, dabei entstehen Ergebnisse, mal mehr, mal weniger geplant. Hier wird auch auf den musikantischen Charakter des Instrumentalisten angespielt, sei es, dass er im improvisierten Praeludium sich mit dem Instrument vertraut macht, sei es, dass er virtuos das Äußerste aus seinem Instrument und seiner körperlichen Geschicklichkeit herausholt.

Spiel und Improvisation

Der Improvisator ist Spieler im wahrsten Sinn des Wortes. In noch umfangreicherem Maße als beim spielenden Interpreten und der gespielten Komposition ist das Potential des Spiels beim Improvisieren wirksam.

1. Auch der Improvisator entwickelt sein musikalisches Spiel in der experimentellen Auseinandersetzung mit seiner „Umgebung“. Ebenso wie beim Komponist kann sich diese Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen abspielen, nämlich als Spiel

  • mit dem Instrument
  • mit dem musikalischem Material
  • mit musikalischen Traditionen
  • ggf. mit außermusikalischen Vorgaben: Themen oder Werken anderer Kunstgattungen (Texte, Bilder etc.)

Darüberhinaus aber spielt der improvisierende Musiker mit dem, was seine Rolle so besonders macht, nämlich

  • mit der augenblicklichen Situation (die auch das Eingehen auf die Atmosphäre von Publikum und räumlichen Gegebenheiten beinhaltet)
  • mit den Mitspielern und
  • mit der unumkehrbaren und unerbittlich verrinnenden Zeit.

Was auf den ersten Blick den Anschein einer nicht zu bewältigenden Überforderung erweckt, erweist sich in der Praxis eher als ein Umfeld von stark wirksamen Anregungen, die in ihrem Zusammenspiel den Musikern den Weg weisen. Was diese Form des Musizierens zu einem experimentellen Spiel macht – ganz im Sinne des kindlichen Konstruktionsspiels – ist der Umstand, dass der Spieler das, was er tut, immer sofort klingend vor sich hat und sein Stück im Prozess entwickelt. Kein Improvisator weiß zuvor, wie sein Stück werden wird, das ergibt sich erst im Spiel – und zwar im Zusammenspiel mit den musikalischen Partnern und mit den genannten Faktoren. Dass dabei auch ganz Neues, Unerhörtes entsteht, ist zwar nicht die Regel, aber auch nicht die Ausnahme.

2. Ähnlich wie der Interpret hat auch der improvisierende Musiker die Möglichkeit, im Spiel künstliche Situationen entstehen zu lassen. Doch während der Interpret sich im Rahmen des Vorgegebenen bewegt, kann ein Improvisator, ähnlich wie im Rollen- oder Gedankenspiel, die Situationen aufzusuchen, die für ihn relevant sind. Hierin scheint mir einer der wichtigsten Vorzüge des Improvisierens zu bestehen. Der Improvisator kann sich beim Musizieren mit sich selbst auseinandersetzen. Deshalb ist auch der Begriff der Authentizität für das Improvisieren so wichtig. Musikalische Situationen, die nicht nur „gemacht“, sondern für den Spieler von wirklicher Dringlichkeit sind, sind auch für den Zuhörer spannend. Dass auch die Einsatzmöglichkeit der Improvisation für therapeutische Zwecke hierin begründet liegt, sei nur am Rande erwähnt.

3.„Beim Improvisieren ist der Gegensatz zwischen Arbeit und lustvollem Tun aufgehoben: Improvisation geschieht in einem Zustand außergewöhnlicher Intensität, größtmöglicher innerer Präsenz, vollkommener Hingabe und zugleich lustvollen Erlebens.“ Dieser Satz stand – fast – genauso am Anfang dieses Artikels, allerdings bezogen auf das Spiel. Er lässt sich ohne weiteres auf die Improvisation übertragen.

Der ideale Zustand beim Improvisieren ist einer der Balance zwischen gegensätzlichen Polen. In Ergänzung zu dem oben dargestellten Modell, das Spiel als Gratwanderung zwischen Spielerei und Pflichterfüllung zeigt, lässt sich dies an weiteren Merkmalen festmachen. Geglücktes improvisatorisches Spiel, das bedeutet:

  • Neugier gegenüber dem Material
    anstelle von routiniertem Spiel,
    aber ohne sich in Materialverliebtheit zu verlieren
  • Risiken eingehen
    statt sich nur auf Altbewährtes zu verlassen,
    aber ohne die Tolldreistigkeit zum Ziel zu erheben
  • dem Zufall eine Chance geben
    statt auf Sicherheit zu gehen,
    aber ohne in völlige Beliebigkeit abzurutschen
  • ein Resultat (eine Form) im Tun entstehen lassen,
    statt es erzwingen zu wollen
    aber ohne das Formen völlig zu ignorieren

oder in drei ganz knappe Begriffe gefasst::

  • Offenheit
    statt Starrheit,
    jedoch nicht Beliebigkeit.

Improvisation als eine Form des Spiels – besser: als die spielerischste Form des Musizierens – ist, ebenso wie das Kinderspiel, ein Weg, sich auf selbstbestimmte und zugleich kreative Weise mit sich und der Welt auseinanderzusetzen und dabei ein ewig Lernender zu bleiben, der sich hinsichtlich der Möglichkeiten des Instruments, der Musik, der Gruppe etc. ebenso weiterentwickeln kann wie in der Beschäftigung mit sich selbst, mit eigenen Gefühlen, Wünschen und Utopien. Improvisation als Spiel betreiben heißt dann, den Gegensatz zwischen künstlerischer und pädagogischer Ausrichtung aufzuheben: Das improvisierende Spiel ist Kunstform und Lernform zugleich.

 

Anmerkungen:

1 Ich beziehe mich im Folgenden auf das in der spieltheoretischen Literatur am weitesten verbreitete Erklärungsmodell, das von Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer entwickelt wurde.

2 vgl. z.B: Axline, V.M.: Kinder-Spieltherapie im nicht-direktiven Verfahren. München, Basel 1972

3 Christoph Richter: Musik, ein Spiel – Spielen mit Musik. In: Musik & Bildung 1/91, S. 7f.

4 Gregor Nickel, Matthias Wächter: Mathematische Spieltheorie. Ein historischer Abriß. In: Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass: Symposion Spieltheorie. Berlin 1998