Vom Wert des Eigenen

Oder: Wenn Kreativität zum Begabungsdefizit wird

(Erstveröffentlichung in Ringgespräch LXIX, Juni 2003 “Kreativität”)

Es war einmal … vor ungefähr 18 Jahren, da schneite mir ein neuer Klavierschüler in den Unterricht, ganze 5 Jahre alt. Ich war zuerst skeptisch, ob er nicht zu jung sei, aber der kleine Kerl hatte solchen Spaß am Klavierspielen, dass er meine Zweifel bald zerstreute. Jede Stunde musste bei ihm mit Improvisation beginnen. Lange Zeit genügten uns dafür zwei Spielregeln. Entweder wir spielten Melodie (er mit 1 Hand) mit Begleitung (ich mit 2 Händen) oder wir gaben uns gegenseitig Klangrätsel auf, bevorzugterweise mit Handpuppen. Welche Handpuppe stelle ich gerade musikalisch dar: den Teufel, den Zauberer oder den Räuber? Das machte uns beiden großen Spaß. Weitaus weniger Spaß machte es, ihn mit konventionellem Klavierspiel zu konfrontieren, denn selbstverständlich wollte er auch das lernen. Egal ob nach Gehör oder nach Noten: die einfachsten Liedchen, die andere Schüler in kürzester Zeit bewältigten, dauerten bei ihm viele Wochen – und am Ende klangen sie immer noch holprig und unsicher.

17 Jahre später: der mittlerweile 22jährige kommt zum Unterricht und stellt 2 Seiten Gershwin-Noten aufs Klavier: ´S Wonderful. Dann beginnt er zu spielen, und was es da zu hören gibt, ist ausgesprochen schlüssig und überzeugend. Ein Uneingeweihter allerdings würde sich die Augen reiben, denn das Gehörte hat eigentlich ziemlich wenig mit dem zu tun, was notiert ist. Oder doch?  Ah ja, die Harmonien der Einleitung tauchen plötzlich auf und mit einem Mal ist auch das Thema zu hören, genau wie in den Noten – na ja, fast genau so – aber jetzt ist er schon wieder woanders…  – Aus den 2 Seiten wird ein 10minütiges Stück, das als Ablauf sehr geschlossen wirkt, sehr nach Gershwin klingt und dennoch die Noten nur hin und wieder streift. Ich bin mir sicher, Gershwin hätte seine Freude daran gehabt, angeblich hat er selbst nie ein Stück zweimal auf dieselbe Weise gespielt.
Das tut mein Schüler übrigens auch nicht. Beim Vorspiel drei Tage später präsentiert er zu meiner großen Verblüffung eine in großen Teilen ganz andere, diesmal sehr nachdenkliche Version. „Was und wie ich spiele, hängt von meiner Verfassung ab“ erklärt er nachher einer Zuhörerin.

Ein Mensch, der sich mit Musik selbst ausdrücken kann, und zwar sehr überzeugend – was will man mehr? Natürlich bin ich stolz auf ihn. Aber nur, solange er improvisiert oder eigene Stücke spielt! Denn mit festgelegten Stücken ist es immer noch ähnlich wie früher: er braucht Monate, um 2 Seiten Notentext halbwegs sicher zu spielen, und ist dann immer noch befangen. Wer ihn notierte Stücke spielen hört und weiß, wie lange er schon Unterricht hat, muss mich als Klavierlehrer für einen kompletten Versager halten!
In Wirklichkeit aber ist er mein „Vorzeige-Schüler“. Denn an ihm lässt sich deutlich zeigen, dass es eine Art von Musikalität gibt, die sich in Vorgegebenem nicht entfalten kann, oder nur, wenn zu dem Vorgegebenen Eigenes hinzukommt (wie bei dem Gershwin-Stück), wenn das Vorgegebene im wahrsten Sinn des Wortes angeEIGNET wird.

Um es klipp und klar zu sagen: nach den Kriterien eines herkömmlichen Instrumentalunterrichts ist dieser Schüler eine Niete! In Wahrheit aber ist er ein talentierter Musiker! In einem konventionellen Unterricht nach Noten hätte er spätestens nach 3 Jahren das Handtuch geworfen. Welch großes Talent wäre dabei verloren gegangen! Halten wir uns dann vor Augen, welch großer Prozentsatz  der Instrumentalschüler an Musikschulen früher oder später aufgeben (ich glaube von 80% gelesen zu haben), dann stellt sich die Frage: Wie viele von ihnen hätten gute Musiker werden können, wenn ihnen erlaubt worden wäre, ihren eigenen Weg zu gehen, IHRE Musik zu machen?

Musikalische Kreativität, also die Fähigkeit, eigene Musik zu erfinden (manchmal wird ja auch das zum Leben erwecken von Notiertem als kreativ bezeichnet – aber hier soll nicht um Worte gestritten werden) ist, das wird in der praktischen Unterrichtsarbeit deutlich, nicht den „großen Genies“ vorbehalten. Es gibt Kreativität auf vielen Stufen, von der ganz großen Bahn brechenden bis zu der ganz kleinen, die sich damit begnügt, für das eigene Anliegen eigene Formulierungen zu finden – egal ob verbal oder musikalisch. Ist das wirklich kreativ? Hat Kreativität nicht mit Originalität zu tun? Ich würde behaupten, dass das Maß an Eigenem ein Gradmesser für Kreativität ist; Eigenes nicht in dem oberflächlichen Sinne, etwas selbst gemacht zu haben, sondern in dem Sinne, dass das Resultat eben nicht klischeehaft ist, nicht klingt wie tausend andere Stücke, sondern vielmehr EIGENschaften hat, die das Stück zu einem Einzelstück machen.

Eine 15-jährige Schülerin (15 scheint das magische Alter zu sein, in dem eigene Stücke an- und entstehen), die erst seit kurzem bei mir ist und sich sehr geschickt anstellt, präsentierte kürzlich ihr erstes Stück, eine einfache Melodie mit Dreiklangs-Begleitung. Der Anfang ist identisch mit „All my Loving“ von den Beatles (was sie nicht kannte), doch unversehens wechselt die in a-moll begonnene Melodie nach gis-moll, um dann über H-Dur wieder in a-moll zu landen, als sei nichts passiert. Kurz vor dem Ende mündet das Stück in einen übermäßigen Dreiklang, der sich dann in den Schluss auflöst. Das Ganze wirkt eher schlicht, die eigentlich ungeheuerlichen harmonischen Dreistigkeiten, derer sich die Schülerin wohlgemerkt gar nicht bewusst war, wirken ausgesprochen organisch und verleihen dem Ganzen einen besonderen Charme.

Ich glaube nicht, dass dieses Mädchen wirklich originell sein wollte, Sie wollte einfach nur ein Stück schreiben, das ihr gefällt. (Keiner hatte sie übrigens dazu aufgefordert!) Aber es zeigte sich, dass sie bei aller Harmlosigkeit des Vorhabens (Melodie mit Dreiklangsbegleitung) etwas sehr Eigenes entwickelte, das wohlgemerkt nicht nur eigen, sondern auch überzeugend war (wobei ich mich frage, ob wirklich eigene Stücke nicht immer überzeugend sind).

Wir haben es hier mit einem anderen Schüler-„Typus“ zu tun als beim ersten Beispiel: dieses Mädchen ist im Spielen vorgegebener Stücke nach Noten sehr erfolgreich (das Klavier ist schon ihr drittes Instrument), aber sie hat eben – wie viele andere auch – eine kreative Begabung, eine Kompetenz, die sich entwickeln möchte. Ob daraus mehr wird als gelegentliche eigene Stückchen, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen. Aber darum geht es nicht. Sie will sich musikalisch entfalten, und zwar nach allen Seiten. Dazu gehört auch das (improvisatorische) Komponieren.

Noch einen dritten Typus möchte ich vorstellen. Dabei handelt es sich um Schüler, die mit gleicher Motivation vorgegebene Stücke nach Noten (oder auch nach Gehör) spielen und improvisieren. Der entscheidende Unterschied aber ist, dass sie beim Improvisieren deutlich besser musizieren als beim Interpretieren: rhythmisch präziser, in der Gestaltung gezielter, als Person authentischer. Improvisation ist für sie der geeignete Rahmen, um ihre Musikalität zur Geltung zu bringen und zu kultivieren.

Damit ließen sich also drei „Sorten Kreative“ auflisten:

  • Die „existentiell Kreativen“, für die das eigene Erfinden (i.d.R. in Form von Improvisation) der einzige und entscheidende Zugang zum Musizieren und damit existentiell notwendig ist
  • Die „potentiell Kreativen“, die beim Selbst-Erfinden eigene Kompetenzen entdecken, weiterentwickeln und ausleben
  • Die „musikantisch Kreativen“, für die das „freie Spiel“ die beste Methode ist, ihre Musikalität zu entfalten (wohin auch immer sie sich später entwickeln mögen)

Die Situation des „real existierenden Instrumentalunterrichts“ ist bekannt und kaum noch der Erwähnung wert. Immerhin haben viele Lehrer mittlerweile erkannt, dass Kreativität eigentlich einen festen Platz in ihrem Unterricht haben müsste. Leider haben sie nie gelernt, wie das zu praktizieren ist. Und leider haben viele von ihnen Angst davor, sich einer Fortbildungssituation ausgerechnet im Fach Improvisation zu stellen, weil sie sich nicht vorstellen können, wie sich ihre enorme instrumentaltechnische Kompetenz mit ihren noch ganz unentwickelten kreativen Fähigkeiten vertragen soll.

Vor diesem Hintergrund muss man die Realität der drei genannten Kreativitäts-Typen anders formulieren. Es gibt

  • begabte Schüler, die den Instrumentalunterricht abbrechen, weil ihre Lehrer nicht in der Lage sind, ihr eigentliches Potential zu erkennen und/oder zu fördern
  • begabte Schüler, die im Instrumentalunterricht auf enge Musizierweisen festgelegt werden, weil ihre Instrumentallehrer nicht bemerken, welche weiteren Fähigkeiten in ihnen stecken.
  • begabte Schüler, deren tatsächliches Maß an Begabung nicht zum Tragen kommt, weil das, was ihnen am meisten liegt, im Unterricht keinen Platz hat.

Instrumentalunterricht schneidet in (viel zu) vielen Fällen einen gesamten Musik- und damit auch Begabungs-Bereich einfach ab bzw. definiert für ein ganz eingegrenztes Feld musikalischer Aktivität die alleinige Gültigkeit. Dabei ist der Instrumentalunterricht nur ein Beispiel, das stellvertretend für viele steht. Es ist allerdings ein besonders krasses Beispiel, weil es sich dabei um Einzel- oder zumindest Kleingruppen-Unterricht handelt, die Lehrenden also wirklich die Möglichkeit haben, sich auf die Besonderheiten ihrer Schüler einzustellen.

Was an Musikhochschulen ganz allmählich durchzusickern beginnt und an der einen oder anderen Stelle schon Wirkung zeigt, muss eine Selbstverständlichkeit unseres Kultur- ebenso wie unseres Ausbildungsbetriebes werden: Kreativität ist ein wichtiger Bestandteil des Musizierens, (mindestens) ebenso wichtig wie das Spiel nach Gehör (welches ein ähnliches Schattendasein fristet) und das Spiel nach Noten. Auszubildende – Instrumentalschüler ebenso wie Musikstudierende – haben ein ANRECHT darauf, in dieser Musizierweise gefördert zu werden.

Und: es darf nicht sein, dass die Fähigkeit zur Kreativität gar zum Fluch wird, wenn Kinder „nur“(!) kreativ begabt sind. Wichtig für eine angemessene Würdigung von Kreativität ist sicherlich die Erkenntnis, dass es nicht nur die „große“, sondern auch alle möglichen Grade „mittlerer“ und „kleiner“ Kreativität gibt. Diese Eigenschaften sind – welchen Umfang auch immer sie haben – kostbar und förderungswürdig.

Ein Ernstnehmen von Kreativität heißt aber auch – und dies sei abschließend betont – dass man nicht angesichts jeglichen kreativen Produkts in unkritischen pädagogischen Jubel ausbricht, sondern das tut was auch für die Förderung anderer kostbarer Eigenschaften gilt: mit dem jeweils richtigen Maß an Kritik, Anerkennung und Ermutigung und der (individuell unterschiedlich) angemessenen Balance aus Freiräumen und Vorgaben den Schülern dabei zu helfen, ihre Talente zu erkennen und auszubauen. Angemessene Methoden dafür fehlen nicht: Sie werden seit Jahrzehnten (beispielsweise in unseren Kreisen) praktiziert und stetig weiterentwickelt